Page 46 - AIT0122_E-Paper
P. 46

REDINGS ESSAY



                              J´AIME BEAUCOUP?







                                                             Ein Essay von Dominik Reding





            W     as gibt es Schöneres, als am ersten Amtstag in Paris zu sein?!“ (Annalena Baer-  neval der Tiere“, schon. Ich trat näher. Ein mattierter Edelstahlkreis überdeckte die Schau-
                                                                          fensterfläche, nur in der Mitte war, kaum größer als eine Schallplatte, ein Guckloch aus
                  bock, Außenministerin). Der Anruf war morgens gekommen, sehr früh. Ich war
            verschlafen und unrasiert und ohne Kaffee und damit auch ohne gute Laune, sonst hätte  dem Metall herausgefräst, davor drängte sich die Menge. Nur ab und an öffnete sich für
            ich mich vielleicht gefreut. Filmschau in Paris, in wenigen Tagen, mein Kinofilm dabei.  wenige Besucher – vielleicht waren es Models, Starlets oder TV-Celebrities, die in Frank-
            Eine freundliche Stimme: „Kommen Sie?“ Von meiner Seite: Räuspern. Lange Pause. Ich  reich ein jeder kennt – eine kaum sichtbare Tür in der Kreisfläche, gab den Blick frei auf
            steckte im Drehbuchschreiben, hatte Grippe, erinnerte mich an eine Jahrgangstufenfahrt,  den unglaublichen Raum dahinter: Eine Disco? Dafür war es zu hell. Ein Modegeschäft?
            endlose Schlangen vor dem Eiffelturm, endlose Schlangen vor dem Louvre, und noch län-  Dafür fehlten die Kleiderständer. Ein Bücherladen? Dafür fehlten die Regale. „Rien!“
            gere Schlangen vor der Mona Lisa. „Es ist nur die eine Filmvorführung abends, Sie können  „Nichts?“ „Yes, nothing, the shop sells nothing.“ Die junge Frau vor mir am Guckloch
            morgens hin und danach direkt zurück. Kommen Sie?“ „Darf ich den Nachtzug nehmen?“  schien ebenso verwundert, wie ich über ihre Erklärung. Wieder öffnete sich der Sesam-
            „Ja.“ „Kann ich jemanden mitnehmen?“ „Nein“. Aus den Untiefen der Erinnerung quollen  Eingang, und jetzt wollte auch ich hinein. „Stop! Montrez I´invitatition!“ Ein sportiver Herr,
            andere Bilder hervor, von einer Parisfahrt mit den Eltern: ein Hinflug im Sturm, reichlich  dessen Oberkörper nur mühsam in das Jackett seines Designeranzugs passte, stellte sich
            genutzte „Hygienebeutel“, ein Verlorengehen im Flughafen Charles de Gaulle, ein Restau-  betont breitbeinig in die Tür. Plötzlich Rufe: „Jean Paul, Jean Paul, regarde ici!“ Und zum
            rantbesuch vor dem Schloss Versailles, der unsere Reisekasse (leider schon zum Beginn  Weihnachtslichtgeflacker addierte sich das Blitzlichtgewitter der Profifotografen. „Jean-
            des Kurztrips) bedenklich dezimierte. „Das Kino liegt fast direkt am Arc de Triomphe, nörd-  Paul! Jean Paul!“ Bürstenschnitt, Matrosenlook, schelmisches Lächeln, tatsächlich, Jean
            lich vom Champs Élysée, also mitten im Zentrum.“ Von mir ein Keuchen, Gedanken an  Paul Gaultier schritt zur Tür. „May I come inside?“ Ich sagte es lässig, schaute zu ihm her-
            die französische Abteilung auf der Berlinale, mit ihren stets größten, leersten und kältesten  über, vertrauensvoll, wie zu einem alten, guten Kumpel. Er betrachtete mich, kurz, kritisch,
            Standboxen und an Jean Paul Gaultier, der mit großer Geste dort einmal einen Film prä-  dann mit Lächeln: „Ah, bien sûr!“ Der bullige Rausschmeißer öffnete ohne Zögern die Tür.
            sentierte und den ich später auf einer dieser berühmt-berüchtigten Berliner Nightlife-Par-  Dahinter verbarg sich kein Gold-, Strass- und Kronenleuchtergeglitzer, wie ich es erwartet
            tys traf. Es ging ihm nicht gut und ich half ihm und tat aus Höflichkeit so, als würde ich hatte, sondern spartanische Kühle: der Boden schwarzes Noppengummi, Seiten und
            ihn nicht erkennen. „Es wird eine Schülervorführung. Pariser                  Rückwand zu einer Ellipse gebogen, diese sonnengelb gekachelt,
            Oberschulen, 10. Klasse. Die sind brav und werden sich be-                    ganz ähnlich den Pariser Metro-Stationen der 1970er-Jahre, dar-
            stimmt freuen. Kommen Sie?“ Regenschauer biblischen Formats                   über ein Himmel aus leuchtenden Glasfasern und dezent asym-
            prasselten vor dem Gare du Nord auf das Pflaster, die Fahrt mit                metrisch aus der Raummitte gerückt, auf gebürstetem Edelstahl-
            dem Nachtzug war unruhig, fast ohne Schlaf, das Kino an der                   sockel, der marmorweiße Kopf einer antiken Göttin. „Wer hat
            Rue Balzac halb leer, die Schüler tatsächlich brav und freund-                den Raum entworfen?“ Jean Paul plauderte angeregt mit einer
            lich. Fast zu brav. Keine Fragen, die hängen bleiben, Fragen, die             Gruppe schöner, edel gekleideter Menschen, Models aus seiner
            einen im Kino halten, einen mit dem Publikum manchmal noch                    Mode-Entourage vielleicht, für mich blieb nur der bullige Türste-
            stundenlang gemeinsam lustvoll lachen, streiten, diskutieren                  her. Er antwortete prompt: „I am not allowed to tell you!“ „Wird
            und staunen lassen. Zwei Stunden später stand ich wieder auf                  das ein Laden?“ „I´m not allowed to tell you!“ „Von Jean Paul
            dem regennassen Trottoir. Viel zu früh noch für die Heimfahrt.                Gaultier?“ „I´m not allowed to tell you.“ Was ist dann der Raum
            „Gehen Sie doch ein bisschen auf den Champs Élysées spazie- Collage: Benjamin Reding  überhaupt?“, „I can tell you!“ Ich horchte auf. „It´s a mock-up
            ren, die sind zur Weihnachtszeit so wunderbar beleuchtet“, riet               shop. A test for a future shop interior.“ Er nickte zufrieden, stolz,
            mir die Mitarbeiterin der Filmschau. Und natürlich sah die                    eine kluge Antwort gefunden zu haben. Aber als ich den Mock-
            Weihnachtsbeleuchtung genauso wunderbar perfekt glitzernd aus, wie jedermann sie von  Shop mit dem Smartphone knipsen wollte, wurde der Rausschmeißer wieder bullig: „No!“
            Tausenden, vielleicht Hunderttausenden Fotos kennt. Ich wand mich ab, ging weiter, ohne  und hielt seine Hand vor die Linse. Vielleicht kam es ihm selbst zu ruppig vor, plötzlich lä-
            konkretes Ziel, misslaunig über so viel kalkulierte Überwältigung. Ging vorbei an den  chelte er wieder, deutete auf ein kleines Buffet, das nichts trug außer Champagnerfla-
            „Sans-Papiers“, den Einwanderern ohne Papiere, den „Illegalen“, die Miniatur-Eiffeltürme  schen. „Have a drink!“ Es klang wie ein Befehl. Ich gehorchte. „What´s your profession?“
            feilbieten, mal bunt blinkend, mal mit Musik (Pieps-Versionen von Offenbachs „Can-Can“),  „Writer“, antwortete ich. Er betrachtete mich verständnislos. Plötzlich grinste er, breit, fast
            vorbei an den Pariser Passanten und Passantinnen, die immer eine Idee eleganter, über-  übermütig. “Ah, you should do what I do!“ Er richtete sich auf, das Jackett spannte, „then
            raschender, bewusster gekleidet scheinen als die meisten Großstädter dieser Erde, und  everybody likes you!“ Er lächelte den Models zu, die ihn aber, so schien es mir, nicht be-
            vorbei an den Schaufenstern, die hier mit überdreht quirliger Grandeur die schönsten Klei-  merken wollten. „You see?!“ Und noch ehe ich fragen konnte: „Was?“, hatte er das Desi-
            nigkeiten des Lebens, also Schmuck, Kunst, Mode präsentieren... Ich blieb stehen. Auf wei-  gnerjackett und Designerhemd ausgezogen und zeigte mit entblößtem Oberkörper seine
            chen Kissen, tatsächlich aber aus rotem Porphyr, weißem Marmor, schwarzem Granit,  Kickbox-Moves. Jetzt schauten die Models tatsächlich herüber und selbst Jean Paul Gaul-
            blauem Lapislazuli gehauen, ruhten von Brillanten umsäumte Preziosen, Ohrringe, Arm-  tier. Die Hitze, der Champagner, die Musik, der Geruch nach Schweiß und Parfum, lang-
            reifen, Broschen, immer nur ein Exemplar je Kissen, nur eines je Fenster. Im Ladenfenster  sam begann sich hier alles zu drehen. Ich suchte Kühle, ich suchte den Ausgang. „Did you
            daneben: Hutkreationen, eingefroren in Eisblöcke. Wie ein Schleier stieg der Dunst von  like it?!“ Was mochte der Türsteher meinen? Den Raum? Die Party? Sich selbst? Ich ent-
            der geschliffenen Oberfläche. Oh là là... Daneben das Zentralgeschäft von Chanel, und tat-  schied mich für den Raum: „J´aime beaucoup!“ Der Winterwind draußen tat gut, machte
            sächlich, der Duft von Chanel No. 5 wehte aus dem Eingang. Tief atmete ich ein. Voilà,  klar und nüchtern. Erschöpft trottete ich in eine der Nebenstraßen, plötzlich still und men-
            c´est Paris... und da hinten, eilt da nicht Carla Bruni versteckt hinter dicken Sonnenbril-  schenleer und atmete erleichtert aus, was sollte jetzt noch kommen? Da rauschte die Li-
            lengläsern in die Boutique von Gianni Versace? Und direkt hier vorne, gleich am nächsten  mousine des französischen Staatspräsidenten an mir vorbei und bog fast lautlos in den
            Ladenfenster bildet sich sogar eine Menschentraube! Ansammlungen dieser Art ziehen  Innenhof des Élysée-Palastes... „Hoffentlich ist bald wieder Filmschau in Paris,“ dachte
            mich selten an, aber die Klänge, die aus dem Laden drangen, Camille Saint-Saëns „Kar-  ich, flanierte zum Gare du Nord und stieg in den Nachtzug.

            046 •  AIT 1/2.2022
   41   42   43   44   45   46   47   48   49   50   51