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REDINGS ESSAY

                                 NIGHTSWIMMING






                                                            Ein Essay von Benjamin Reding



            M    anchmal, wenn ich das Lied „Nightswimming“ von R.E.M. höre, zieht sich bei  Montag eine Klausur, „Cosmas Damian Asam und die Barockkirchen Niederbayerns“. Die
                                                                          Nacht war mild, der Himmel leuchtete orange-farben, wie immer zur Stunde des Hoch-
                 mir etwas im Magen zusammen und ich werde unruhig und fließend. Und
            manchmal denke ich als Kolumnist, ob es verstanden wird, ob es sich lohnt, Dinge zu  ofen-Abstichs im Stahlwerk. Den Anfang des Weges zum „Schallacker“ kannte ich: Vorbei
            erzählen, die, so von außen betrachtet, recht klein scheinen, Geschichten ohne große  an den glitzernden Schlackehalden; vorbei an den Gasleitungen, so breit und hoch wie
            Pointe, ohne Turningpoint, ohne dramatischen Clou, fast ereignislos. Ob ich es wagen  ein Zwölf-Tonnen-LKW; vorbei an den Bahndämmen mit ihren ratternden Güterzügen,
            soll? Und manchmal denke ich, dass sich Wellness, dass sich ein „Wohlfühlen“, soweit  die die Stille der Nacht vertrieben; vorbei auch am Sudhaus der Brauerei, der Saal hinter
            dieses Gefühl überhaupt etwas mit Räumen, Orten, Gebäuden zu tun hat, doch recht  haushohen Scheiben hell erleuchtet, Nachtschicht. Dann wurde der Weg fremd, unbe-
            selten in Hotel-Spas, Ferienclubs, Kurhäusern oder gar in stylischen Arztpraxen voll-  kanntes Terrain: Pappeln, ein Sportplatz, ein mannshohes Gitter. Delle sprang mit einem
            zieht, in denen man sich ja doch nur wohlfühlt, wenn man sie schnell wieder verlassen  Satz über den Zaun, dann die beiden Mädchen von der Tanzfläche, die Jungs halfen
            kann. Sowas denke ich manchmal.                               ihnen, dann Ricardia, die sich nicht helfen lassen wollte, und dann ich. Uff, der Sprung
            „Komm mit!“ Ricardia stand draußen vor der Disco, ruhte sich vom Tanzen aus,  klappte, ganz knapp. Hinter dem Gitter Dunkelheit. Dann, die Augen gewöhnten sich,
            schwitzte und rauchte. Eigentlich hieß sie Ricarda, aber ihre Freunde hängten noch ein  diffuses Laternenlicht und, noch entfernt, Bodennebel, der sich im Nachtwind kräuselte.
            „i“ dran: Ricardia. Sie tat, als ärgere sie das, aber sie hörte es gerne. Es klang exotisch.  Plötzlich, fast beißend, der Geruch von Chlor. Was würde passieren, wenn sie uns erwi-
            Und jetzt, um zwei Uhr nachts, rief sie laut gegen die Musik: „Komm mit, wir gehen ins  schen? Aber die Gruppe blieb ganz locker, sie lachten, redeten, rauchten. Sie kannten
            Schall acker!“ Der Tanzschuppen stand in der Vorstadt, einer Landschaft aus schwarz-  sich aus. Oder nicht? Mit jedem Schritt stählerner, röhriger, gittriger, gestängiger wurde
            verrußten Jahrhundertwende-Mietshäusern, oft um                                       das Gelände. Wir nährten uns einem Stahlwerk, kei-
            ein paar Etagen reduziert, noch mit Notdach und                                       nem Pool. Und dann, so plötzlich wie der Chlorge-
            vermauerten Fenstern. Wie ein altes Gebiss, das                                       ruch, lag es vor uns, ein leuchtendes Becken, klein,
            1945 ein paar harte Schläge zu viel abbekommen                                        fast zu klein für ein öffentliches Freibad. „Wow!“,
            hat. Und über den Kellerfenstern sah man weißge-                                      sagte ich und erschrak über meinen lauten Ausruf.
            tünchte Pfeile und verblichene Aufschriften: „LSR“.                                   Delle hockte sich auf die Wiese, drückte Play auf
            Fragte man die Alten, sagten sie: „Na Luftschutz-                                     dem  Kassettenrekorder:  „Nightswimming“  von
            raum heißt das“, so beiläufig, als sei nichts dabei.                                   R.E.M. Nachtfeucht klebte das Gras, leise murmelten
            Und aus dieser Zeit der Bomben, des rostigen Ei-                                      die Jungs mit schon echten Männerstimmen und da-
            sens  und  des  rohen  Betons,  aus  dieser  Zeit                                     zwischen, wie Punkte im Satz, glucksten die Lacher
            stammte das „Schall acker“. „Komm mit!“ Der Bass                                      der Mädchen. Die Jungs zogen die T-Shirts aus, die
            wummerte,  die  Lichtorgel  flackerte,  Ricardia                                       Turnschuhe, die Jeans, da standen sie dann, etwas
            musste  es  gegen  die  Musik  schreien.  Aber  sie                                   verdruckst,  in  ihren  Unterhosen.  Die  Mädchen
            meinte nicht mich, sie meinte einen hochgeschos-                                      schauten zu. Einer sprang, in Unterhose, vom Be  -
            senen Blonden, Delle, der mit Nachnamen Dell-                                         ckenrand. Ricardia hockte sich zu Delle, er gab ihr
            mann hieß, am Tresen sein Bier trank und den alle                                     ein Dosenbier und Feuer. Und ich stand in Hose und
            kannten und viele bewunderten, weil er die größ-                                      T-Shirt am Rand der Rasenfläche, fror, dachte an die
            ten Graffitis am Hauptbahnhof taggte, also sprühte.                                    Klausur, dann an den Nacht-Bus. Zweimal Umstei-
            Lässig leerte er sein Bier und stand auf. Gefolgt von  Foto: Benjamin Reding          gen … oder dreimal? Da! Im Gebüsch! Eine Bewe-
            seinem Anhang, zwei Jungs, die in Bands spielten,                                     gung! Ich hielt die Luft an, selbst die andern wurden
            und zwei Mädchen, die schön getanzt hatten. Vom                                       still.  Aufsicht?  Polizei?  Bademeister?  Gespenster?
            „Schallacker“ hatte ich schon gehört. Ein Restgrundstück zwischen Hochöfen und Walz-  Nein, drei Karnickel. Das Wasser schimmerte, der Wind ließ die Pappeln rauschen, das
            werken, so lächerlich spitz zugeschnitten, dass selbst der findigste Bauingenieur daraus  Lied aus dem Kassettenrekorder. „The fear of getting caught, of recklessness and water …
            keine Fabrik mehr zaubern konnte. Links ein Bahndamm, geradeaus eine Eisenbahn-  they cannot see me naked … night swimming.” Erst das T-Shirt, dann die Hose und, ach,
            brücke, rechts auf einer Anhöhe Kühltürme und hinter, vor, über allem, wie geschwol-  wenn die so brav sein wollen, ich nicht, dann fiel auch die Unterhose. Und jetzt ins Be  -
            lene Adern eines überanstrengten Maschinen-Goliaths, die Gas- und Dampfleitungen  cken. Würde bestimmt ziemlich kalt. Ich tappte über die Kacheln, noch warm vom Tag
            des Stahlwerks gegenüber. Ein betoniertes Rechteck markierte das Zentrum, quasi das  davor, atmete tief ein und ging zum Dreimeterbrett. Niemand war heute dort gesprungen.
            Herz dieses eisernen Gefüges: ein Schwimmbecken. Das „Schallacker“ war, fast wie  Die Metallstufen waren trocken, der Lack rissig, hellblau, als mutige Behauptung gegen
            zum Hohn, wirklich ein Freibad. Es hieß, früher hätten dort die Hippies genächtigt,  das Grau der Stadt. Ich hatte vergessen, wie stark das Brett an der Spitze schwingt. Man
            Hasch geraucht und Orgien gefeiert. Und es spuke dort. Unerklärliche Geräusche, ver-  konnte das Stahlwerk sehen. Hunderte Lampen. Sternenhimmel aus Metall. „Brrrruu-
            wischte Bewegungen, Augen im Dunkel. Aber ich dachte nicht an Huibuh!-rufende Ge-  usch …“. Der Aufplatscher war nicht hart, das Wasser nicht kalt. Es kam ja aus dem Werk,
            spenster, jetzt dachte ich an unterkühlte Hallenbäder, an chlorgetränkte Sportstunden  erhitzt vom niemals erlöschenden Hochofen. Ich sprang noch drei Mal. Und juchzte bei
            mit grimmigen Bademeistern und an eine nicht enden wollende Schwimmprüfung mit  jedem Eintauchen. „Oh, es dämmert.“ Ricardia rief es und löste sich aus Delles Umar-
            dem obligatorischen Sprung vom Dreimeterbrett, der mir als Kind, unter den gebrüllten  mung. Dann kamen von irgendwo aus dem Dunkel auch die Band-Jungs und die Mäd-
            Befehlen des Schwimmlehrers und den fordernden, mein Versagen erhoffenden Blicken  chen. Wir zogen eilig die T-Shirts und Hosen über die nasse Haut und kletterten über den
            der Mitschüler, ganz und gar nicht leichtgefallen war. Sie endete mit hartem Bauchplat-  Zaun. Die Busse fuhren schon, die Frühschicht begann.
            scher und ich schwor mir: Sowas mache ich nie wieder.         Vor ein paar Tagen war ich wieder dort. Natürlich ist alles verschwunden, das Stahlwerk,
            Ricardia wartete am Disco-Ausgang mit den Jungs, ich zögerte. „Nun komm schon.“ Na  die Schlackehalden, selbst die Brauerei und das Freibad, alles unter Tonnen von Humus
            gut, ich folgte. Wohl war mir nicht. Sie würden sich alle selbst beeindrucken mit Kopf-  begraben. Dort wächst jetzt ein Park. Es heißt, nachts würde es dort spuken. Man höre
            sprüngen, Handständen, Saltos und sicher auch viel, viel trinken … Und auf mich wartete  Lachen und Musik und Plätschern und Juchzen. Und ja, ich bin sicher, dass es stimmt.

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