GROHE Digital Talks

Architekturbarometer 30mal10 – Interview mit Johannes Ernst (Steidle Architekten)

Wir haben nach wie vor in Deutschland eine Wohnungsnot. Was braucht die Bauwirtschaft, um dauerhaft zusätzliche Kapazitäten aufzubauen?

Dafür braucht man zunächst eine stabile wirtschaftliche Lage und eine politische Vorprägung, die den Wohnungsbau aus dem Bereich der Spekulation herausholt. Der ganze Wohnungsbau, abgesehen von den wenigen Städten, die sich in den letzten zehn Jahren noch im geförderten Wohnungsbau engagierten, diente weniger der Wohnraumschaffung als der Geldanlage. Ich habe es erlebt, dass Baugrundstücke in München innerhalb von einem Jahr einen dreifachen Wert durch zweimaligen Verkauf erzielten. Die Zeche dafür zahlt am Ende die breite Masse, die nicht mehr in der Lage ist, solche Wohnungen zu bezahlen. In unserer Gesellschaft gibt es einen hohen Anteil an Mitbürgern, die aufgrund von Erbschaften oder guter geschäftlicher Situationen in der Lage sind, diese vollkommen überhöhten Preise zu zahlen. Das sind aber genau die zehn Prozent, die eigentlich keine Wohnung benötigen. Die anderen neunzig Prozent, die tatsächlich eine Wohnung brauchen, können diese Preise mit ihrem aus rechtschaffender Arbeit verdienten Geld nicht zahlen und infolgedessen nicht mithalten. Die Bodenfrage muss also dringend geregelt werden und es müssen Randbedingungen geschaffen werden, damit Wohnungsbauten gegen die Wohnungsnot und nicht für die Spekulation geplant und gebaut werden. Diesbezüglich gibt es ja bereits verschiedene Vorschläge.

Wir Architekten sind keine Politiker, dennoch haben wir ein hohes Maß an gesellschaftlicher Verantwortung und Know-how, was wir einbringen müssen. Entscheidend ist also, dass die Gesellschaft an der Wertsteigerung der Grundstücke teilhat, und zwar zum Beispiel im Rahmen von Bebauungsplanverfahren oder Bewilligungen nach Paragraf 34, wo aus gewerblichen Nutzbereichen Wohnbereiche entstehen. In den letzten Jahren ist das mittlere Segment in Vergessenheit geraten. Man hat den Anteil an gefördertem Wohnungsbau hochgehalten und gleichzeitig den restlichen Teil im hochpreisigen Bereich bedient, so dass man Sozialwohnungen neben den fünfzehntausend Euro pro Quadratmeter Eigentumswohnungen hatte. Dazwischen gibt es kein Angebot und diese Lücke gilt es zu schließen. Wir brauchen dringend eine Förderung von Mietwohnungsbau durch größere institutionelle oder große private Bauherren, um Mietwohnungen in einem Preissegment zur Verfügung zu stellen, die auch von Krankenschwestern zu finanzieren sind. Auch der Genossenschaftswohnungsbau und der kommunale Wohnungsbau sollten einen viel größeren Anteil einnehmen. Es gibt also im Wohnungsmarkt eine Menge an Instrumentarien und Möglichkeiten. Wir planen derzeit ein super interessantes Projekt im Münchener Werksviertel, bei dem ein Privatunternehmer zwei große Baufelder mit dem Ziel bebaut, eine gesellschaftlich relevante Schnittmenge zu erreichen. Man merkt in der Kalkulation allerdings relativ schnell, dass es eng wird, und deshalb ist eine Förderung äußerst wichtig.

 

Die Krise zeigt deutlicher denn je, dass die meisten Wohnungen den Bedürfnissen ihrer Bewohner nicht mehr gerecht werden. Sehen Sie die Krise als Chance, neu über den Wohnungsbau nachzudenken?

Die Siebziger Jahre waren die letzten, in denen man mit experimentellen Wohnungsgrundrissen gearbeitet und sich verändernde familiäre und gesellschaftliche Zusammenhänge reflektiert hat. Mit Einzug der Postmoderne hat man sich davon entfernt, die Verpackung war dann das Wichtige, weniger der Inhalt. In Phasen größter Wohnungsnot entwickeln sich die Preise radikal nach oben, selbst der letzte Mist lässt sich zu Höchstpreisen verkaufen. Das führt zu einem Käuferwettbewerb um die wenigen Wohnungen, die überhaupt noch zu bekommen sind, selbst wenn sie unbrauchbare Grundrisse haben. Es gibt eine ganz einfache Regel: man kann mit Wohnungen, die den höchsten Quadratmeterpreis erzielen, am meisten verdienen. Um ein möglichst breites Feld abzudecken, hat man die Wohnungen so klein wie möglich gehalten, um den Multiplikator Wohnfläche möglichst gering, dafür aber den Multiplikator Preis pro Quadratmeter möglichst hoch zu halten. Das führt zu Zweizimmerwohnungen mit 42 Quadratmetern. In diesen Wohnungen ist man kaum in der Lage, einen Brief zu öffnen, weil jeder Quadratmeter mit den Mindestanforderungen belegt ist.

Es muss uns durch geschickte Förderungspolitik gelingen, Wohnungen zu schaffen, die unser gesellschaftliches Spektrum abbilden. Und wir Architekten müssen uns in eine Position bringen, dass wir unsere Qualitäten nicht in der reinen Optimierung der Wohnflächenbilanz und der Systematisierung der Wohnprojekte vergeuden. Ich selber habe mit drei Kindern eine große Familie, wir bräuchten eine Fünf- bis Sechszimmerwohnung. Solche Wohnungen haben wir als Architekten jedoch in den letzten Jahren nicht mehr gebaut. Das Maximale, was sich ein Investor heute vorstellen kann, ist eine Vierzimmerwohnung mit hundert Quadratmetern. Multipliziert man diese hundert Quadratmeter mit einem durchschnittlichen, derzeit  aufgerufenen Preis von zehntausend Euro pro Quadratmeter, kostet eine solche Wohnung eine Million Euro. Das muss man sich einmal vorstellen. Wobei groß nicht gleich gut bedeutet. Gerade unsere Vorväter der klassischen Moderne haben auch mit kleinen Wohnraumzuschnitten hohe Qualitäten erzeugt. Genau da müssen wir wieder ansetzen.

 

Gerade in Zeiten von Corona erfährt die Wohnung einen Schub an Abkehr von der Monofunktionalität. Was muss in diesem Sinne in Bezug auf Wohnungsgrundrisse neu diskutiert werden?

Die besten Blaupausen sind nach wie vor unsere Altbauwohnungen mit den hohen Raumhöhen und den mehr oder weniger nutzungsneutralen Räumen, die sich immer zu einem schönen öffentlichen Raum hin orientieren. Das Thema Raumhöhe muss neu diskutiert werden; dass man über Galerien und über verschiedene Höhenbereiche unterschiedliche Aufenthaltszonen schafft, die innerhalb eines Raumes diverse Qualitäten hergeben. Da gibt es tolle Beispiele und wir haben große Potenziale, daran zu arbeiten. Auch die Auseinandersetzung mit dem wohnungsnahen Außenraum, also mit dem privaten Freiraum, ist extrem wichtig, sei es der Balkon, die Terrasse oder der Hof. Die Bedeutung dieser Räume ist einem gerade in der jetzigen Krisenzeit sehr bewusst geworden. Großzügig dimensionierte Freiräume müssen durch einen intelligenten Städtebau geschaffen werden. Die Themen Dichte und Freiraum müssen in eine gute und interessante Balance gebracht werden.

 

Lesen Sie das vollständige Interview mit Johannes Ernst auf der Seite des Architekturbarometer 30mal10 – Grohe Digital Talks.

 

Über Johannes Ernst

geboren 1966 in Baden-Baden, studierte erArchitektur an der Technischen Universität Berlin und am Illinois Institute of Technology Chicago. Im Anschluss an sein Studium arbeitete er viele Jahre lang als Freier  Mitarbeiter bei Steidle + Partner (1997 – 2005) und war zudem von 2001 – 2004 als Assistent an der Akademie der Bildenden Künste München bei Prof. Otto Steidle tätig. 2005 gründete Johannes Ernst gemeinsam mit Hans Kohl, Johann Spengler, Martin Klein und Verena von Gagern-Steidle das Büro Steidle Architekten Gesellschaft von Architekten und Stadtplanern mbH in München und führt dieses seither gemeinsam mit den Partner als Geschäftsführender Gesellschafter. Darüber hinaus lehrte er an zahlreichen internationalen Hochschulen, aktuell hat er die Leitung des Fachgebiet Entwerfen und Wohnungsbau an der Technischen Universität Darmstadt inne. (www.steidle-architekten.de)

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