DIE STADTKÜSTE ATMET – AUF ! – Das Aktionswochenende

 

“Die Stadtküste atmet – AUF” lautete der Titel der Aktion zum Auftakt der Klimawoche am 19./20. September 2020 im Hamburger Katharinenviertel, zu der Hauptverkehrsstraße an der Hamburger Altstadtküste gesperrt und in einen erlebbaren Stadtraum verwandelt wurde. Zu den zehn Initiatoren und Förderern gehört auch der AIT-ArchitekturSalon, der mit einer hochkarätig besetzten Open-Air-Stadtdiskussion samt Bläser- und Streich-Konzert aus den Luken der Speicherstadt einen Höhepunkt des Wochenendes beisteuerte. “Sinnlichkeit … Hören und Riechen der Stadt“ hieß das Format mit rund 25 Impulsvorträgen, das sich mit dem Erlebnis der Stadt auf der Ebene aller Sinne auseinandersetzte. Eine Höhepunkt war sicherlich die Lesung von Benjamin Reding über Sinnlichkeit und Architektur. Der Architekturkritiker Olaf Bartels blickt auf diesen besonderen Tag zurück.

 

Den Film über die Aktion schauen

Mit allen Sinnen

von Olaf Bartels

Ein Hauch von Revolution wehte auch über die Veranstaltung „Sinnlichkeit … Hören und Riechen der Stadt“ im Rahmen der Reihe „Die Stadtküste atmet – AUF!“. Schließlich sind Barrikaden und Straßensperren ein besonderes Genre der Architekturgeschichte. Unter anderem Gottfried Semper, der große Sohn Hamburgs, erlangte damit Ruhm, aber auch Schmach. Die Straße Bei den Mühren für einen Tag am 19. September 2020 war gesperrt, die Barrikaden gegen den Autoverkehr errichtet worden. Das geschah zwar auf Bürgerinitiative, aber mit dem Segen der Obrigkeit. Letzterer war selbstredend nicht ganz einfach zu erlangen, denn der Kampf um Veränderungen findet heutzutage eher bürokratisch-virtuell als auf der Straße statt. So blieb den Barrikadistinnen und Barrikadisten aber die Freude, ihren Erfolg direkt vor Ort zu feiern. Ganz undurchlässig blieben die Sperren allerdings nicht: der Fuß- und Radverkehr durfte passieren und so blieben der eine oder die andere auch stehen und lauschten den seltenen Klängen, die der Verkehr sonst übertönen hatte. In den Luken der gegenüberliegenden Speicherstadt spielten das Bläserensemble Brasso Hamburgo unter der Leitung von Alexander Kockel und das Streicherensemble Nova Consonanza unter der Leitung von Nina Eberle auf. Sie gaben der Stadt einen neuen Klang.

Kristina Bacht (AIT-Architektursalon, Hamburg), Frank Engelbrecht (Pastor der Hamburger Hauptkirche St.Katharinen) und Dr. Nikolas Hill (Hamburger Konvent und von Beust & Coll, Hamburg/Berlin/Brüssel) begrüßten das Publikum für die Veranstalter und eröffneten damit eine Diskussion, die sich im Folgenden um öffentliche Räume drehte: Um deren Qualitäten zum Aufenthalt, aber auch als Durchgangs- oder Verkehrsräume. Die zeitweilige Abwesenheit des Autoverkehrs nutzen die Rednerinnen und Redner, um deutlich zu machen, was fahrende, aber auch ruhende Kraftfahrzeuge allein durch ihre vielfältige Präsens an sinnlichen Eindrücken überdecken oder an Möglichkeiten verhindern. Kristina Bacht und der Münchener Architekt und Stadtplaner Michael Ziller moderierten die Inputs und Diskussionsbeiträge.

Der Vorstandsvorsitzende der Bundesstiftung Baukultur Reiner Nagel stellte zu Beginn den aktuellen Baukulturbericht vor, der sich explizit mit öffentlichen Räumen in Deutschland befasst und zeigte daran unter anderem auf, wie stark sich der PKW-Verkehr aber auch die Entwicklung der Fahrzeuge in Größe und Gewicht Einfluss auf öffentliche Räumen nehmen und welchen Wert diese (wieder) erlangen können, wenn dieser Verkehr dort reduziert würde.

Die anschließenden Beiträge unterstrichen seine Ausführungen aus unterschiedlichen Perspektiven und auf unterschiedliche Weise. Der Schauspieler Benjamin Reding erinnert sich beispielsweise literarisch an die Erfahrungen beim Spielen auf der Straße in Kindertagen. Michael Ziller berichtete von Reiseerfahrungen und Eindrücken fremder Städte, die mit allen Sinnen aufgenommen hatte. Antje Stockmann Professorin für Landschaftsarchitektur an der nahegelegenen HafenCity Universität erinnert an die naturräumlichen Qualitäten der Stadt, die mit weniger Autoverkehr deutlicher wahrnehmbar sind.

Es schlossen sich viele Rednerinnen und Redner mit ihren Beiträgen, die sie zum Teil als kurze Videobotschaften aus der Ferne übermittelten, an und hoben den einen oder anderen Aspekt hervor, der durch den Autoverkehr zurückgedrängt oder ohne ihn besser erlebbar wäre oder sie erklärten, wie der Verkehr besser organisiert werden könnte. Man konnte lange Zeit den Eindruck haben, dass man sich schnell darüber sehr einig war, ohne das Auto auf Straßen und Plätzen besser leben zu können.

In der abschließenden Podiumsdiskussion gab die Verkehrsplanerin Prof. Stefanie Bremer (Uni Kassel) ihren Mitdiskutantinnen und Mitdiskutanten auf dem Podium und im Publikum zu bedenken, den Verkehr, insbesondere den PKW-Verkehr nicht zu vergessen, schließlich seien die Autos nur temporär abwesend und stauten sich jetzt während man auf der gesperrten Straße diskutiere auf anderen Straßen in der Stadt. Auch der Fuß- und Radverkehr sei durch die Sperrungen nur beruhigt und in der Stadt letztlich auch ein ernstzunehmender Faktor. Alle Menschen wollten sich eben auch schnell bewegen, nicht nur mit dem Auto, auch mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Man säße hinter den Barrikaden in einer Ausnahmesituation. Für den Alltag lud sie alle Planenden ein, eng mit den Verkehrsplanerinnen und Verkehrsplanern zusammenzuarbeiten.

Am Ende der Veranstaltung wurde der Diskussionsraum wieder geöffnet. Streichermusik erfüllte den Straßenraum, Radlerinnen und Radler, Fußgänger und Fußgängerinnen hatten wieder frei Bahn und konnten die neue Wegefreiheit für den Rest des Wochenendes feiern bis auch die letzten Barrikaden fielen und der Alltagsverkehr wieder seinen Lauf nehmen konnte.

 

 

Der Duft im Kleinhirn

von Benjamin und Dominik Reding

Bald geht dieser Sommer zu Ende. Es war ein warmer Sommer, ein lieblicher Sommer, fast ein zärtlicher Sommer. Aber es war kein Sommer wie sonst: wir konnten nicht weg, wir blieben zu Haus. Und erinnern uns umso sehnlicher an den Sommer davor. Den Sommer ohne Maske und Abstand, als wir noch reisen durften und sie heimbringen konnten, in unseren Koffern, unseren Kameras, selbst in der Kleidung: die Reiseerinnerungen. In den Koffern als Herzmuschel vom Strand auf Korsika, als Schneekugel aus Russland, mit Kreml und Basilius-Kathedrale, als U-Bahnplan aus Osaka, auf unseren Smartphones als JPEGs und in unserer Kleidung als Geruch, vielleicht als Duft – vielleicht auch als Gestank.

Wir brauchen nur tief durchzuatmen und sind wieder mittendrin: Im Dieseldunst von Karatschi, in den Eukalyptus-Wäldern bei Sydney, an der Hafenmole auf Samos oder der Kehrwiederspitze in Hamburg, überhaupt am Meer. Die Erinnerung quillt wie sämiges Sonnenöl an die Oberfläche. Wie riecht das Meer? Nach Seetang? Nach Fisch? Nach H2O? Vielleicht Salzig? Es riecht salzig. Aber wie riecht Salz?

Gerüche beschreiben fällt schwer. Wie riecht Zimt? Wie riecht Lavendel? Wie riecht Erde? Und dennoch, steigen die Geruchs-moleküle erst einmal in die Nase, kann man sich an Orten wieder-finden, die tausende Kilometer entfernt liegen, Räume betreten, die es nicht mehr gibt und Menschen begegnen, die längst entschwunden sind. Da reicht der Waschpulverduft eines Handtuchs, um zurück in Mutters Kinderbadewanne versetzt zu werden, der Mief von abgetretenem Linoleum, um wieder das Bockspringen in der Grundschul-Turnstunde üben zu müssen, der Geruch von Zigarrenqualm und Kölnisch Wasser, um wieder am Kaffeetisch in Opas alter Wohnung zu hocken. 2 Aber es sind nicht nur Orte, Räume und Menschen, die mit den Duftmolekülen zurückkehren: es sind die Gefühle.

So stark, als wären sie keine sichere, wohlfeile Erinnerung, sondern machtvolle Realität, mal bedrohlich, mal bitter-süss: Das grenzenlose Kinderglück im Badehandtuch, die Versagensangst in der Sport-stunde, das Unbehagen an Opas streng-steifer Kaffeetafel. Gerüche sind die Bernsteine des Kleinhirns, gut sichtbar und luftdicht versiegelt, die Brausetabletten des Unterbewussten, kurz und heftig schäumen sie auf, um dann rückstandsfrei zu zerfallen.

Wenn man da doch rankommen könnte, die dunklen Mächte nutzen. Könnte man mit Gerüchen malen, es würde ein Bild des Rausches, des Glücks, der Ekstase. Und könnte man mit Gerüchen Architektur erschaffen, dann…

Schneetreiben in der Innenstadt. Die Kälte verschluckte die Diesel-Schwaden. Und meine Schuhe machten lustige Geräusche im Schnee „krch, krch, krch“. Ich kam von der Grundschule, hatte gelernt, dass man „nass“ mit Doppel-S, aber „Fuß“ mit Eszett schreibt und fror, bitterlich. Die Straßenbahn nach Hause fiel aus. Es ging mir wie dem Mädchen mit den Zündhölzern, ich suchte nach Wärme und Schutz. Da sah ich es: Ein Leuchten, Strahlen, Glitzern! Kugeln, Sterne, Figuren aus hauchdünnem Glas schwebten aufgehängt an unsichtbaren Drähten im Rechteck eines Schaufensters. Mein Atem dampfte, beschlug die Scheibe. Und hier schon meinte ich es zu erschnuppern: Fein, süß, holzig, betörend. Ich trat ein.

„Boah“, sagt ich. Der Boden aus nachtblauem Schiefer, die Decke ein Firmament aus Glühbirnen, die Treppen ein Aluminium-Plexiglas-Gestänge, die Wände aus Mooreiche, Sessel aus Stahlrohr und Leder, eine Galerie über drei Etagen, umstellt von Glas und Porzellan, kostbar, edel, zerbrechlich. Wie das Wohnzimmer eines Millionärs sah das Geschäft aus und eigentlich war es das auch, denn sein Inhaber, Philip Rosenthal, war Millionär und sein privates Domizil, ein Schloss in Franken, soll ganz ähnlich eingerichtet gewesen sein. Aber das Einmalige, ja Unbeschreibliche dieses Porzellanladens war der Geruch, der hier – ohne Zweifel – ein Duft war. Fest hat er sich in mein kindliches Unterbewusstsein eingebrannt: Schnuppere ich Wachskerzen, bin ich wieder dort. 3 Rieche ich Sandelholz, bin ich wieder dort, rieche ich Leder, bin ich wieder dort. Blumenläden duften nach Blumen, Kleiderläden nach Baumwolle, Apotheken nach Isopropanol- Alkohol, Parfümerien nach Parfüm, Rosenthal aber verkaufte Glas und Porzellan, das riecht erstmal nach gar nichts. Also unternahm er etwas. Wer wie er vor den Nazis fliehen musste, der weiß wie Angst riecht, wer bedroht wurde, weiß, wie Gewalt stinkt und wer die Flucht überstanden hat, weiß, wie der erste Morgen in dem Land duftet, das dich aufgenommen und gerettet hat. Herr Rosenthal kannte die Macht der Gerüche. Und er machte sie sich zu nutze. Nie wieder bin ich einer so perfekten, olfaktorischen Architektur-Kreation begegnet.

Aber war es so? Gab es das wirklich? Gezielt geplante Geruchs-kulissen? Oder war die Rosenthal´sche Duft-Offenbarung doch nur ein Zufall? Sind die Gerüchte über Gerüche vielleicht allesamt Fake-News? Man hört da ja so manches: Es gäbe Autos, die einen über die Ausdünstungen der Kunststoffsorten dazu bringen, die richtigen Knöpfe zu drücken und versteckte Düsen in den Lebensmittelabteilungen der Supermärkte, die auch aus dem verschrumpeltsten Salatkopf eine Delikatesse zaubern.

In dieser Nebenstraße in Eppendorf, wo ich dem professionellen Einsatz von Duft-Molekülen nun nachschnüffeln will, riecht es nach Beton. Vielleicht auch so ein Trick: Frischer Beton, das kündet ja von Aufbau, Aufbruch, Zukunft, das soll Dynamik, Kraft und Vertrauen vermitteln. Aber es ist nicht ganz so tricky: Das Bürogebäude aus den Siebzigern wird nur umgebaut, zwei Stockwerke kommen hinzu. Ich nehme die Stufen mit Schwung durch ein orange-rot-gekacheltes Treppenhaus, hinauf bis zur buntesten Bürotür: Dahinter „UNIT“, ein Innenarchitekturbüro. Die Shopdesign-Trendsetter Hamburgs. Projekte im In- und Ausland, vom Brillenladen bis zum Hotel, alles Einzelanfertigungen und alles absolut up-to-date. Die werden wissen, wie sich das mit den Gerüchen und deren Gestaltung so verhält und mir vielleicht noch die must-see-Farbe und den must-sniff-Geruch der kommenden Design-Saison verraten.

Ich erwarte ein Labor hinter der Tür, antiseptisch wie eine Raumstation, voller Mitarbeiter in weißen Kitteln, die konzentriert und geschäftig mit Reagenzgläsern und Erlenmeyerkolben angefüllt mit hochwirksamen Duft-Substanzen hantieren, erwarte Testpersonen, die mittels 4 Geruchsproben zum Kauf von zwei linken Socken oder durchlöcherten Regenmänteln animiert werden, erwarte strenge Materialkontrollen, damit keinem Verkaufstisch je ein Odor von überreifem Harzer Käse oder Aal in Gelee entströmt.

Am Eingang begrüßen mich die Chefs, aber nicht in weißen Kitteln, sondern im T-Shirt, ganz sommerlich entspannt. Bei der Trendfarbe wird man sich schnell einig. Die Mid-Century-Töne seien im kommen, Senfgrün zum Beispiel. Und der Trend-Geruch in der Ladenarchitektur? Sie grübeln, sie diskutieren, dann die Antwort: „Olfaktorisch neutral. Wenn überhaupt, dann sollen die Produkte riechen, nicht die Wände.“ Erst bin ich verblüfft, fast enttäuscht. Also doch keine Geheimdüsen mit Jasminblütenduft hinter müffelnden Ladenregalen. Aber schon auf dem Weg hinaus durchs Kacheltreppenhaus hebt sich meine Stimmung wieder. Mamas Handtuch, der Turnhallenboden, Opas Zigarren, diese Gerüche der Kindheit, die Düfte und Gestänke unserer Häuser und Gärten, unserer Straßen, unserer Städte, ja unseres Lebens, sie verstören und betören und gehören uns. Uns allein – und unseren Seelen.

 

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