Stipendiaten-Blog: Juliane Glaser

Interior Scholarship – das AIT-Stipendium der Sto-Stiftung

Juliane Glaser – Voyeur oder Fußgänger?

In „Kunst des Handelns“ stellt Michel Certeau die von einem Einzelnen oder einer Minderheit geplante Stadt als einen klaren, leicht lesbaren Text dar. Doch von einem Architekten oder Stadtplaner entworfen, ist die geplante Stadt reine Fiktion. In sie dringt die bewohnte, wandelnde Stadt mit ihrer undurchschaubaren, blinden Beweglichkeit.

Ich beschäftigte mich sehr lange mit diesem Text, den ich gleich drei Mal lesen musste um ihn auch nur annähernd verstehen zu können. Doch das Thema, über das ich zugegebener Maßen vorher nie wirklich nachgedacht hatte, lies mich nicht mehr los. Eine Frage nach der anderen stellte sich mir, Bilder von Aussichtstürmen, Gipfelkreuzen, verwirrten Menschen mit Stadtkarten in der Hand, sowie von alten Gemälden aus der „Position Gottes“,… entstanden in meinem Kopf. Eine solch intensive Auseinandersetzung mit einem Text, immer mit dem Gedanken an eine räumliche Interpretation, war für mich eine völlig neue Herausforderung. Jedoch eine super spannende Erfahrung! So ähnlich stelle ich mir den Großteil des Alltags eines Szenographen vor.  Zwischendurch fragte ich mich jedoch, ob es wirklich solche abstrakten philosophischen Erläuterungen braucht, um unser doch recht simples menschliches Dasein und unsere Bestrebungen zu erklären…  und dann stellte ich mir weiter Fragen:

Nehmen wir in unserem Alltag bewusst die Rolle des Voyeurs ein? Was passiert mit dem Voyeur der wieder zum Fußgänger wird? Ist ein planender Architekt Voyeur und Fußgänger zu gleich? Wieso plant man, wenn man früher oder später die Kontrolle darüber verliert? Sollte man als Voyeur mehrere Perspektiven einnehmen, bzw. Höhen überwinden? Wenn ja, ist man dann mächtiger als einer der nur eine Perspektive kennt? Was ist man wenn man eine Stadtkarte in der Hand hält?

Um Antworten auf die Fragen zu finden versuchte ich bestimmte Begriffe zu isolieren um sie dann simpel in einer skizzenhaften Skulptur aus dem Text in den Raum zu holen. Denn es betrifft uns jeden Tag, ein Leben lang. Strukturen der Gesellschaft, Planung, Verwachsung, Umstrukturierungen, Strukturlosigkeit. Wissen und Nichtwissen.

Die Stadt

„ Die gigantische Masse… verwandelt sich in ein Textgewebe… “

Die Stadt als Text. Während man an Rom die Kunst des Alterns ablesen kann, liest sich New York als ein Exzess aus Verschwendung und Produktion. Das Vorhandene wird verworfen, das Zukünftige einfach den existierenden Strukturen hinzugefügt.

Der Fußgänger

„ …deren Körper dem mehr oder weniger deutlichen Schriftbild eines 

„städtischen Textes“  folgen, den sie schreiben, ohne ihn lesen zu können. “

Die aus den Fußgängern der Stadt geballte Masse folgt dem mehr oder weniger lesbaren Schriftbild des städtischen Textes. Von Straßen und Gebäuden umgeben verschwimmen die Identitäten der Fußgänger, jeder ist Teil der Masse.

Der Voyeur

 „ …emporgehoben  zu sein bedeutet, dem mächtigen Zugriff der Stadt entrissen zu werden. “

Der Voyeur erlangt durch seine erhobene Position seine Identität zurück. Indem er sich aus den undurschaubaren Strukturen des alltäglichen Lebens heraushält entsteht eine notwenige Distanz. Der Voyeur verlässt die Masse und der Text wird für ihn lesbar.

Die Erotik des Wissens

„ diesen maßlosesten aller Texte zu „überschauen“, zu überragen und in Gänze zu erfassen.“

Der Mensch hat den Drang, die Lust den Text, die Stadt zu begreifen, zu verstehen, Wissen zu erlangen.  Fasziniert davon die Rolle des „alles überschauende Auge“ einzunehmen, überblickt man aus gottnaher Position die unterworfene Masse.

Die Fiktion des Wissens

„ Ausschließlich dieser Blickpunkt zu sein, das ist die Fiktion des Wissens.“

Das durch das Lesen der Stadt erlangte Wissen ist lediglich Fiktion. Ein Trugbild, das durch die eingeschränkte Sicht eines Einzelnen und dessen subjektive Wahrnehmung entsteht. Nach dem Abstieg wird der Voyeur wieder Teil der Masse.

Da der Ausstellungsraum, der uns in der Hochschule zum Aufbau zur Verfügung stand, keine Stadt war und mir ein Abend für ein Leben wirklich zu kurz vorkam, unterteilte ich die Skulptur in drei Zonen. Der Begehende wird aus dem gesellschaftlichen Ereignis, der Zone 1,  isoliert und dann auf die erhöhte Ebene eines Voyeurs hebt. Als Fußgänger begibt er sich in die Skulptur, die in Zone 2 gleich eine Entscheidung fordert. Laufe ich nach rechts oder links? Wohin führt der Weg? Man verschwindet langsam aus dem Sichtfeld der anderen. Durch die transparenten, wackelnden Wände lassen sich nur Schemen der Umwelt erahnen. In Zone 3 ist ein Durchblicken nach außen nicht mehr möglich und man verspürt den Drang über die Wände hinweg auf den überwundenen Weg zu Blicken. Man steigt die Stufen empor und nimmt die Position des Voyeurs ein. Man erfährt zur selben Zeit den Genuss des Wissens und der Macht, als auch die Erkenntnis, dass man bald wieder ein Teil des Lebens sein wird, das einem gerade zu Füßen liegt.

Während des Abends, an dem wir unsere Auseinandersetzungen mit unseren Texten den Besuchern näher bringen sollten, ergaben sich viele interessante Gespräche. Die Besucher trauten sich erst nach und nach in die Skulptur hinein. Während der Ausstellung stellte ich fest, dass ein paar zu Voyeuren gewordene Fußgänger, die Aussicht auch ausnutzten um die Masse der „Fußgänger“ zu beobachten. Diese fühlten die Blicke und schenkten dem Voyeur ihre Aufmerksamkeit. Dadurch wurde er unsicher und verloren an Macht. Steigt man auf einen Kirchturm, stellt dies keiner in Frage. Steigt man jedoch in mitten eines Raumes auf einen Stuhl, erntet man irritierte Blicke und fühlt sich nicht wohl. Ähnlich war es auch bei der Skulptur. Die Distanz war leider nicht groß genug um sich überlegen zu fühlen, doch sie hat gereicht um einen Hauch davon zu erhaschen.

Vielen, lieben Dank! Über Anregungen und Kommentar freue ich mich sehr!

Juliane Glaser


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