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»Zeichnen – die Sprache der Architekten« – der Essay

Vom Kinderbild zur architektonischen Handskizze

Am Anfang eines jeden Entwurfs steht der kreative Prozess. Unsere Vorstellungskraft ermöglicht es, zu einem erkannten Problem, einem festgestellten Bedarf oder einer bestimmten Fragestellung Lösungen zu erarbeiten. Meist ist der Weg dahin nicht geradlinig, sondern eher kurvig, verschlungen, bisweilen gar ein Labyrinth. Ideen werden ausgelotet, vertieft und wieder verworfen, bis aus dem Gewirr die richtige Lösung hervortritt. Der große Wurf!

Das Heureka-Erlebnis ist nicht auf Befehl abrufbar. Kreativität startet nicht per Knopfdruck. Sie entzieht sich unserer Kontrolle, wenn wir sie am dringendsten benötigen. Es ist verrückt. Aber gerade, wenn wir an nichts denken, nichts tun, springt die Region in unserem Gehirn an, die neue Ideen produziert. Dieses Netzwerk im Gehirn könnte man auch als „Ruhezustandsnetzwerk“ bezeichnen, obwohl es alles andere als inaktiv ist. Es erledigt sogar eine Menge – gerade dann, wenn wir nichts tun: Es sortiert Gedanken und Erinnerungen, Gesehenes und Erlerntes. Es braucht also Ruhe und Müßiggang, um den Kreativplatz im Kopf für die nächste Idee aufzuräumen. Manche Kreative versuchen zudem, über feste Rituale eine vertraute Atmosphäre zu schaffen, die den Kopf nicht mit anderen Eindrücken beschäftigt. Eine späte Uhrzeit, nachdem der Terminkalender geschlossen ist, ein Spaziergang im Grünen, der Schreibtisch am Fenster oder der immer gleiche Stift.

Die Schaffensphase kann langsam und zäh verlaufen oder uns mit rasantem Schwung überraschen, sodass es die Ideen festzuhalten gilt, bevor sie vorüberziehen. So gibt es große Entwürfe, die quasi unter der Dusche entstanden. Bauwerke, deren Skizzen auf eine Tischserviette hingekritzelt wurden. Geistesblitze, die kurz vorm Einschlafen auftauchen. Beim Kochen, der Gartenarbeit, sogar beim Fahrradreparieren!

Die Kreativität ist ein unsteter Zeitgenosse, den es mit einem geeigneten Medium oder Werkzeug einzufangen gilt. Für viele Architekten ist das – auch im Zeitalter des Computers – noch immer die Handzeichnung. Die Architektin Kristina Lopes weiß ein Loblied auf althergebrachte Gewohnheiten zu singen: „Auch wenn man täglich am Rechner sitzt, ein Leben ohne Stifte und Papier oder überhaupt ohne Zeichnen oder Schreiben kann ich mir gar nicht vorstellen.“ Das Zeichnen dient nicht nur dem schnellen Erfassen der Idee, sondern auch dem kontinuierlichen Durchdenken des Problems und der geeigneten Lösung. Die variierende Wiederholung und Vervollständigung der Idee beim Zeichnen entspricht dem gleichen Prozess, den Heinrich von Kleist die „allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ nannte. Was anfangs Skizze ist, wird nach und nach zum Plan.

Zudem ist die Zeichnung ein Mittel der Kommunikation. Das war schon bei den Höhlenmalereien alter Kulturen so und ist auch der Architektur dienlich. Die Fähigkeit, Realitäten abzubilden, oder im Falle der Architektur, Zukünftiges zu denken, neue Wirklichkeiten zu schaffen und diese zeichnerisch zu vermitteln, ist ein wesentlicher Baustein des kreativen Prozesses. Die Architektin Silvia Schellenberg-Thaut hat das bemerkenswert beschrieben: „Der Stift kommt bei uns natürlich ständig zum Einsatz – sozusagen bei jeder Entwurfsskizze. Wir kommunizieren unsere Entwürfe gegenüber den Mitarbeitern oder dem Bauherrn mithilfe von Skizzen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Skizze, die am Anfang auf das Skizzenpapier geskribbelt wurde, viel mehr aussagt und mehr Atmosphäre hat als ein fertig gerendertes Bild, das oft sehr aufwendig entsteht.“ Die Zeichnung ist sichtbarer Beweis unseres inneren Reichtums, unserer Vorstellungs- und Ausdruckskraft. Es ist die Erfahrung von Raum, die sich auf dem Papier vermittelt.

Die Zeichnung metaphorisch als die „Sprache von Architekten“ zu bezeichnen, ist nicht neu. Jedoch ist die Gattung der Architekturzeichnung ebenso vielfältig wie die Differenzierung sprachlichen Ausdrucksformen. So bleibt die Skizze dem Abstrakten verhaftet und lässt ähnlich wie ein Aphorismus umfassend Raum für Interpretation und Detaillierung. Die Skizze ist das kompositorische Gerüst des Entwurfs: Sie lässt die räumliche Disposition und Proportionierung erahnen, erhebt jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Der ?nale Plan der Ausführung hingegen ist bis ins Detail ausgearbeitet und so spezi?sch wie ein Roman, bei dem jede Figur und jede Handlung bedeutend für die Geschichte als Ganzes sind. Architekten sammeln die Anfänge eines Projekts mit den vielen in Skizzenform umrissenen Varianten einer Lösung oft in einem Ordner oder Buch. Durch das Skizzenbuch kann die Auseinandersetzung mit einer bestimmten Situation und die Entstehung des Entwurfs nachvollzogen werden. Die räumlichen Grundgedanken können jederzeit erneut abgerufen werden.

Die Zeichnung ist die Sprache der Architektur. Und diese Art der Kommunikation beginnt bereits im frühen Kindesalter. Das, was zum Alltag aller Kreativen gehört, wurzelt tief in der Vorstellungskraft und Methodik der Kindheit. Als das Spiel noch Welten ohne Grenzen öffnete, nur die eigenen Regeln zählten und nichts unmöglich erschien. Als ausreichend Müßiggang Raum für Fantasiewelten ließ und schnell zu Stift und Papier gegriffen wurde, um sie anderen zeigen zu können. Mystische Wesen erzeugen, Erlebnisse darstellen oder Wünsche mitteilen – Kinder nutzen Zeichnungen vielfältig und intensiv. Beliebte Motive werden häu?g wiederholt – mal mit unterschiedlichen Stiften auf buntem Papier, mal wird schnell ein Stapel Post-its mit Kugelschreiberbildchen versehen – und zunehmend verfeinert sich der Stil.

Die Frage der Ästhetik ist zunächst zweitrangig. Im Vordergrund steht die Auseinandersetzung des Kindes mit dem kreativen Schaffensprozess an sich. Gelegenheiten zum kreativen Ausdruck zu haben und für diesen kreativen Ausdruck gelobt zu werden, kann im weiteren Leben mehr Interesse an künstlerischen Aktivitäten wecken. Viele Architekten haben schon früh in ihrer Kindheit zu Stift und Papier gegriffen und sich in ihre Fantasien vertieft. Sie haben gezeichnet, was sie bei ihren Streifzügen durch die Umgebung gesehen haben. Sie haben festgehalten, was ihnen besonders auf?el, es neu interpretiert und in Bildergeschichten eingebaut. „Ich habe ja sehr lachen müssen, als ich unter den vielen, vielen Zeichnungen auf dem Dachboden die hier gefunden habe“, sagte der Architekt Titus Bernhard, als er sein Kinderbild für die Ausstellung „Wie wir laufen lernten …“ beschreiben soll. Die Vorstellungskraft ist die Quelle des kreativen Seins und Denkens. Sie ist bedeutender als die tatsächliche Kenntnis von Dingen. Ohne Vorstellungskraft könnten wir keine Er?ndungen umsetzen, keine Kultur produzieren und möglicherweise auch keinen Fortschritt erlangen. Die Kunst ist es, sich diese Fähigkeit zur Imagination aus der Kindheit zu erhalten und auch später gekonnt einzusetzen. Kinder wissen intuitiv um die Bedeutung der Vorstellungskraft – sie sind intuitive Lebenskünstler. Für sie ist alles möglich. Sie sprechen in der Fantasie mit leblosen Dingen und sehen, was Erwachsenen verborgen bleibt. Das „magische Alter“ liegt zwischen drei und sechs Jahren. In dieser Zeit entwickelt sich die Kreativität der Kinder deutlich, können
Freiräume zum Forschen und Entdecken ungemein wertvoll sein. Alles wird gesammelt: Jedes Fundstück auf der Straße oder im Wald ist ein hervorragendes Spielzeug. Sie bauen Burgen aus Kartoffelpüree, ziehen Spaghetti schlürfend in den Mund und stellen sich dabei vor, eine Schlange gegessen zu haben, oder schlüpfen immer wieder in verschiedene Rollen, um die eigene Welt zu inszenieren. Kinder glauben an ihre Träume und an sich selbst. Ihre Welt ist groß und bunt und voll von ihrer eigenen Vorstellung.

Im Unterschied zum späteren Lernen in der Schule ist das Spiel eine spezi?sche Lernform in der frühen Kindheit. Durch das Spielen erwerben Kinder Fähigkeiten, die sie benötigen, um ein Leben lang eigenverantwortlich, selbstbestimmt und eigenaktiv lernen und in Gruppen leben zu können. Spielen ist in seiner Komplexität die ef?zienteste und anstrengendste, aber auch lustvollste Art zu lernen. Diese Unbekümmertheit von Kindern, dieses Leben mit dem grenzenlosen, fantasievollen, nur der eigenen Vorstellungswelt verp?ichteten Raum, verschwindet oftmals, während wir erwachsen werden. Die meisten Erwachsenen haben die Leidenschaft für das Hier und Jetzt verloren. Sie nehmen einen Platz in der Gesellschaft ein, der mit Verantwortung verbunden ist und die ungestümen Träume in den Hintergrund treten lässt. Erwachsene vergessen bisweilen die als Kind gelebte Vorstellungswelt.

Es gilt also, ein Stück dieser freien Vorstellungswelt zu erhalten. Neugier, Nonkonformismus und die Bereitschaft, Unsicherheit zu ertragen, können auch im Erwachsenenalter der Kreativität dienlich sein. Der Architekt Sebastian Thaut erinnert daran: „Die Freude am Machen, am Prozess, an den Ergebnissen und auch Zufälle zuzulassen – das sollten wir uns für die Architektur bewahren. Bis zum Schluss noch andere Möglichkeiten offenzuhalten und zu sehen: Da geht noch mehr.“ Wenn einem die alten Kinderzeichnungen in die Hände fallen, reibt man sich manchmal verwundert die Augen. Der erste Ponyhof, an dem das kleine Herz so hing, dass er auf einem Blatt Papier festgehalten werden musste, zeigte doch tatsächlich ein paar Details, die heute im Berufsalltag als Architekt wiederauftauchen. Die Hochhäuser und Flughafentower, die der Fantasie eines 11-Jährigen entsprangen und auf Papier in den Himmel wuchsen – sie spielen heute noch eine Rolle beim Entwerfen. So urteilt Axel Bienhaus beim Betrachten seiner Bilder: „Man sieht, dass ich mir schon damals Gedanken über Themen gemacht habe, die uns durchaus auch heute noch in unseren Flughafenprojekten oder in anderen Bauten beschäftigen. Beispielsweise der barrierefreie Zugang – der Aufzug ist in diesem Bild ja ein ganz wesentliches gestalterisches Element und wird auch besonders inszeniert. Also Dinge, die uns heute bewegen, haben mich offenbar auch schon damals bewegt.“

Wie wir als Kind die Welt sahen, was uns begeistert und in den Bann gezogen hat, prägt uns nachhaltig. Die Verbindung der frühen Kunstwerke zur beru?ichen Tätigkeit als Architekt beschreibt Konstantin Jaspert so: „Es wäre vermessen, in diesen Zeichnungen die Wurzeln meines späteren Berufslebens zu sehen. Aber eine gewisse Af?nität zur Stadt und zur gebauten Umwelt ist sicher nicht zu leugnen.“ Auch der Architekt Florian Götze hat in seiner Zeichnung bauliche Strukturen festgehalten: „Was der Plan zum Bild war, erinnere ich nicht mehr. Auf der linken Seite steht wohl eine Art Fernsehturm, rechts so etwas wie ein Baumhaus, schwer zugänglich, rund wie eine Blase mit Krone und einer Art schwarzer Passerelle zum Fernsehturm. Realistisch sieht das Ganze nicht aus, aber wer sich schon früh ganz an die Grenzen der Wirklichkeit hält, dem geht meist vor der Zeit die Fantasie aus.“

Das vorliegende Buch deckt die vergessenen Wurzeln auf und erweckt unsere unbekümmerten Kindheitsfantasien wieder zum Leben. Wie gut, dass diese Bilder erhalten geblieben sind. Meist waren es die Eltern, die sich um die Rettung der Kleinode bemühten. Aus der Unbedarftheit der Kindheit entsprungen, offenbaren sie, was Albert Einstein bereits feststellte: „Vorstellungskraft ist wichtiger als Wissen.“

aus:
„Wie wir laufen lernten …“ – das Buch zur Wanderausstellung
1. Auflage 2022
Herausgeber: Gerflor Mipolam GmbH
Verlag: Gesellschaft für Knowhow-Transfer in Architektur und Bauwesen mbH

Hinweis: Wir bemühen uns um eine inklusive Sprache und verwenden möglichst geschlechtsneutrale Begriffe. In Ausnahmefällen und ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit verzichten wir auf die geschlechtergerechte Sprache.

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