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Éo, toutes architectures, Locus Solus, Bordeaux | Foto: Éo, toutes architectures

Ausstellung „Never Demolish!“ und Symposium „Bezahlbar besser wohnen. Transformation im urbanen Kontext“

Lichte, weite und schöne Wohnräume sind kein Privileg der Reichen! Ein gutes Beispiel für diese These liefert die Ausstellung „Never Demolish!“ im Münchner AIT-ArchitekturSalon, die dort noch bis zum 16. April 2018 zu sehen ist. Sie zeigt das Ergebnis der Transformation von 530 Wohneinheiten in drei Hochhausblöcken in Bordeaux, die nach den Entwürfen von Lacaton & Vassal und Druot gemeinsam mit dem Architekturbüro Christophe Hutin umgebaut und erweitert worden sind. Das Rezept für bezahlbaren Wohnraum: Niemals abreißen!

Text: Dipl.-Ing. Melanie Schlegel

In den 1960er- und 1970er-Jahren wurden weltweit große Wohnanlagen gebaut, um den hohen Bedarf an Wohnraum zu befriedigen. Fünf Jahrzehnte später erscheinen diese Siedlungen vielen als ideologisch veraltet, urbanistisch gescheitert und reif für den Abriss. Abreißen und neu bauen führte aber immer mehr zu Entmietungen, Mieterhöhung und sogar zu deutlich höheren Baukosten. Hierzu veröffentlichten vor mehr als zehn Jahren die Architekten Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal zusammen mit Frédéric Druot ihre Studie „PLUS“. Darin stellten sie die Unstimmigkeit des politisch gewollten Modells „abreißen, neu bauen“ dar, infolge dessen immer mehr Wohnungen verschwanden als dass neue entstanden. Hinzu kam, dass während der Umbauphasen die Menschen ihre Wohnungen verlassen und später deutlich höhere Mieten bezahlen mussten, sofern sie überhaupt wieder zurückkehren durften. Die Architekten setzten gegen diese Entwicklung mit „PLUS“ ein Statement: Es gehe darum, niemals etwas abzureißen, wegzunehmen oder zu ersetzen, sondern immer etwas hinzuzufügen, zu transformieren und weiter zu nutzen. Ein relevantes Thema für die Ausstellung „Never Demolish!“ und Symposium im Münchner AIT-Architektur-Salon!

Tour Bois le Prêtre in Paris
Mit der Transformation des Tour Bois le Prêtre im Jahr 2011, einem Wohnhochhaus mit 100 Sozialwohnungen am Stadtrand von Paris lieferten Lacaton & Vasall zusammen mit Frédéric Druot den ersten Beweis, dass ihre Studie PLUS richtig ist. Bauherr war die Wohnungsbaugesellschaft Aquitanis, vertreten durch Direktor Bernard Blanc. Das Ergebnis: Bei einer Vergrößerung der Wohnfläche um ein Drittel und einer Reduzierung des Energieverbrauchs um die Hälfte entstanden keine Zusatzkosten, keine Entmietung, keine Mieterhöhungen. Im Gegenteil! Die geschätzten Kosten für Abriss und Neubau lagen mit 20 Millionen Euro fast doppelt so hoch wie die tatsächlichen Baukosten von 11 Millionen Euro. Schöner Nebeneffekt: Licht, Weite, Freiheit und Schönheit sind kein Privileg der Reichen. Zumindest nicht, wenn die Architekten Anne Lacaton, Philippe Vassal und Frédéric Druot mit Bernard Blanc am Werke sind und wenn, so zeigte sich später, es ihnen andere gleich tun.

Transformation in Bordeaux
Eine Fortsetzung dieses Erfolgs ließ nicht lange auf sich warten. Überzeugt vom Pariser Projekt rief Bernard Blanc ein neues Bauvorhaben dieser Art ins Leben und beauftragte die drei Architekturbüros erneut; diesmal allerdings für ein fünf Mal so großes Projekt: die Transformation dreier Hochhausblöcke aus den 1960er-Jahren in der Cité du Grand Parc in Bordeaux. Aufgrund der stattlichen Projektgröße zog der Bauherr für Umbau und Vergrößerung der insgesamt 530 Wohneinheiten für rund 4.000 Bewohner das Architekturbüro von Christophe Hutin mit hinzu. Während des Umbaus verschwanden die ursprünglichen Lochfassaden, an deren Stelle es seit der Fertigstellung 2016 Vollverglasungen mit Schiebeelementen gibt. Davor liegt eine neue, 3,80 Meter tiefe Raumschicht aus Wintergärten und Balkonen. Innen angebrachte Thermovorhänge unterstützen den Wärmedämmeffekt des Wintergartens. Als Klimapuffer erreicht diese Konstruktion Dämmwerte wie ein 17 Zentimeter dickes WDV-System.

Gut besuchtes Symposium
Zur Vernissage der Ausstellung „Never Demolish!“ lud der AIT-ArchitekturSalon am 6. März 2018 zum Symposium „Bezahlbar besser wohnen. Transformation im urbanen Kontext“ in den Münchner AIT-ArchitekturSalon in das ehemalige Umspannwerk in der Hotterstraße 12 ein. Dort, im Herzen der Münchner Altstadt, dort, wo in Deutschland die höchsten Mietpreise verlangt werden, kamen über hundert Gäste. Darunter Architekten, Stadtplaner, Entwickler und Politiker sowie Menschen, denen Kulturdenkmäler am Herzen liegen. Sie ließen sich zeigen, wie es trotz beschränkter Bedingungen im kostengünstigen Wohnungsbau möglich sein kann, neue und ungewöhnliche Raumkonzepte zu realisieren.

Zahlreiche, größten Teils realisierte Projekte aus den Niederlanden sowie aus Frankreich und Deutschland standen im Mittelpunkt der vorwiegend englischsprachigen Vorträge, die sich alle um architektonisch wertvollen und gleichzeitig bezahlbaren Wohnraum drehten und sich durch würdevolle Umbau- sowie ökologisch und ökonomisch wertvolle Realisierungsmaßnahmen auszeichnen. Partizipation, Gemeinschaftseinrichtungen standen dabei ebenso im Fokus wie Energieeffizienz und Bezahlbarkeit. Architekt Kamiel Klaasse stellte das Sozialwohnungsbauprojekt Kleiburg im Amsterdamer Stadtteil Bijlmermer vor, für das NL Architects 2017 den Mies-van-der-Rohe-Pres 2017 erhalten hatten. Bei dem Projekt sanierten die Architekten gemeinsam mit dem Büro XVW Architektur riesige Wohnblöcke mit insgesamt 500 Wohneinheiten. Eine besondere Leistung bestand darin, noch mehr Wohnraum im Parterre zu gewinnen und den umliegenden Park mehr mit den mäanderförmigen Grundrissen zu vereinen. Die Jury des renommierten Preises prämierte damit zum ersten Mal einen Umbau und verdeutlichte damit die hohe Bedeutung solcher Maßnahmen wie Rück- und Selbstausbau. Ebenso verhält es sich mit der Nutzung. Wohnungsbauten schaffen es in der Regel auch eher selten zu den Preisträgern von hoch dotierten Architekturpreisen. Dieser schon.

Ob es das Vorzeigeprojekt „Locus Solus“ von Éo, toutes architectures aus Bordeaux zu einer solchen Auszeichnung schaffen wird, steht zum heutigen Zeitpunkt noch nicht fest. Potenzial im Sinne der Maßnahmen birgt es jedenfalls, denn auch hier – übrigens wieder in der Cité du Grand Parc in Bordeaux – wurde vorwiegend saniert. Bis 2017 entstanden unter anderem 46 Wohneinheiten, Gemeinschaftsräume, Büros und Parkplätze. Die Architekten Antoine Carde und Siegrid Péré-Lahaille stellten in München das rund 5,4 Millionen-Euro-Projekt vor, das in großen Teilen partizipativ entstanden ist.

Auch in Deutschland gibt es zahlreiche Lösungsansätze für erschwinglichen und sozial verträglichen Wohnraum. Einige von ihnen stellten Nanni Grau und Frank Schönert vom Berliner Büro „Hütten und Paläste“ vor. Darunter die Wohnungsaufstockung mit dem Namen „Agora Wohnen und CELab“, die vom Berliner Senat durch das sogenannte SIWA-Programm gefördert wird und seit 2016 läuft. Hier soll langfristig eine historische Lagerhalle als Kultur- und Gewerbestandort gesichert werden. Geplant ist außerdem, Wohnungen und Gewerbe mit Kreislaufprozessen miteinander zu verbinden. Daher der Name CELab, der für Circular Economy Lab steht. Weiter zeigten die Berliner Arbeiten mit den Schwerpunkten auf beispielsweise Gemeinschaftsinitiativen, Co-Working-Spaces oder Urban Gardening.

Im letzten Vortrag spannte Christophe Hutin aus Bordeaux den Bogen zur Ausstellung „Never Demolish!“ im AiTArchitekturSalon und präsentierte als einer der drei verantwortlichen Architekten dem Auditorium spektakuläre Fotografien von Philipp Ruault aus dem bordelaiser Transformationsprojekt. Sogar im Keller des Umspannwerks war deutlich spürbar, wie weit, hell und komfortabel die Wohnungen nun sein müssen.

Die Ausstellung: Installation und Exponate
Bereits während der Vorträge saßen die Zuhörer zwischen den Exponaten, die die Wintergärten des Wohnblocks mit Blick über die Dächer der Stadt simulieren: also zwischen Fototapeten und Topfpflanzen. Generell zeigt die Ausstellung 1:1-Darstellungen der Wohnungen mit Möbeln und Objekten. Großformatige Bilder im Hintergrund geben einen Einblick in die Wohneinheiten und vermitteln dem Besucher das Gefühl, in der Wohnung zu stehen. Die zehn Meter lange und knapp drei Meter hohe Fotowand übernimmt die Rolle der Glasfassade mit Schiebeelementen. Von einer Seite aus simulieren diese Fotos den Blick vom Wintergarten in den Wohnraum und von der anderen Seite den Ausblick vom Wohnraum auf die Wintergärten und weiter über die Dächer von Bordeaux. Reale Thermo- und Sonnenschutzvorhänge wurden vor die Fotowände gehängt und mit Mobiliar wie Sofas, Fernseher, Perserteppich oder Yucca-Palmen ausgestattet. Die Installation verwandelt den Ausstellungsraum in Wohnungen und vermittelt, wie weit und licht es auch im Sozialwohnungsbau sein kann. Ergänzt wird die Installation mit Plänen, einem Film sowie weiteren Hintergrundinformationen. Kuratiert von Ilka und Andreas Ruby und erstmals gezeigt auf dem Kopenhagener Architekturfestival 2017 ist die Ausstellung noch bis zum 20. April 2018 im Münchner AIT- ArchitekturSalon zu sehen. Die nächste Station soll voraussichtlich Basel sein.

Melanie Schlegel ist freie Redakteurin und Autorin. Sie lebt in Seefeld (Bayern).

Infos + Kontakt

„Never Demolish!“
Ausstellungsdauer: bis 20. April 2018
AIT-ArchitekturSalon, Galerie für Architektur, Innenarchitektur und Produktdesign
Hotterstraße 12, 80331 München
Tel. +49 89 23023184
muenchen.ait-architektursalon.de
Öffnungszeiten:
Mi – Mo 10 – 20 Uhr
dienstags geschlossen

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