Architektur & Erinnerung

AIT-Dialog arbeitet an einem Wanderbuch, in dem Architektinnen und Architekten ihre Erinnerungen in Form von Skizzen festhalten und erforscht damit das Verhältnis der Baukultur zur Erinnerung. In der Architektur ist die Erinnerung ein Anker- und Ausgangspunkt für neue, innovative Ideen. Was sind die Referenzen, welche die gegenwärtige Arbeit beeinflussen, welches Gebäude hat die eigene architektonische Haltung stark beeinflusst und inspiriert immer wieder? Mit diesen Fragen sehen sich Architekten immer wieder in ihrem Schaffensprozess konfrontiert. Das neu konzipierte Wanderbuch soll Fragen wie diesen nachgehen.

Neben dem Spiegelbild des individuellen Gedächtnisses, kommt der Architektur auf mehreren Ebenen die Rolle der Bewahrung und des Ausdrucks von globalen und kollektiven Erinnerungen zu. Im Kontext historischer Ereignisse spielt die Architektur für die Erinnerungskultur eine bedeutende Rolle – sei es als Ort, in dem sich Geschichte manifestiert oder als Denkmal, das an Vergangenes erinnert. Ansätze, die Historie am Leben zu erhalten, gibt es in der Architektur unterschiedliche. So legt Denkmalschutz den Schwerpunkt darauf, historische Bauten aller Epochen zu bewahren, indem der Bestand erhalten und gepflegt wird. Die Rekonstruktion wiederum geht dem Wunsch nach, Vergangenes wieder zu beleben und Vertrautes zu erschaffen.

Was aber, wenn ein Gebäude mit negativen Erinnerungen behaftet ist? Ist ein Abriss oder die vollständige Überformung die Lösung? In seinem Beitrag zum Thema “Bauen und Erinnern” hat sich Dominik Reding dieser Fragestellung angenähert und sich bei der Auseinandersetzung gefragt: “Hat ein Haus eine Seele?”, “Kann es das geben, eine gebaute Architektur, die aufsaugt, was in ihren Wänden geschieht?”. Dass die Architektur auch einen anderen Weg gehen kann, zeigt er an einem aktuellen Beispiel – dem Umbau von Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn in eine Polizeiwache, für das das Vorarlberger Büro Marte.Marte den Wettbewerb gewonnen hat.

 

Das böse Haus am Inn

von Dominik Reding

Der Ort der Erinnerung schien friedvoll. Ein schmuckes, denkmalgeschütztes Altstadthaus, nah bei der Kirche, nah am Fluss, noch aus dem Mittelalter stammend und im Biedermeier freundlich aufgehübscht. Es sollte abgerissen werden. Nicht weil es für eine Straße im Weg stand oder der Schwamm im Dachstuhl nistete – nein, wegen einem ehemaligen Bewohner. „Damit die ekligen Aufmärsche davor aufhören“, erklärte der zuständige Minister.

Hat ein Haus eine Seele? Bauhäusler Gropius hätte empört den Kopf geschüttelt, Monsieur Le Corbusier es vielleicht zumindest für möglich gehalten und Prof. Schmitthenner aus Stuttgart eifrig genickt. Aber, unter uns, kann es das geben, eine gebaute Architektur, die aufsaugt, was in ihren Wänden geschieht? In deren Mauerritzen sich absetzt, was dort geredet, gelacht, gestöhnt, in dessen Bodendielen tropft, was dort geschwitzt, geblutet, geweint wurde? Und es dann behält, wie die Hirnzellen die Erinnerung, ganz gleich, ob sie schön oder schrecklich sind. Wo Bewohner und Bewohntes am Ende eins werden, untrennbar. Das mag etwas anrüchig, etwas esoterisch, konstruiert, gar pseudo-religiös klingen, aber gäbe es sonst die Geschichten vom „Haunted House“, vom „Poltergeist“, vom „verzauberten Garten“, vom „Genius Loci “?

Die Bürger des Römischen Imperiums waren so überzeugt von der Idee des schicksalhaften Eins Werdens von Haus und Hüter, das ihnen als schlimmste Strafe nicht der letale Schwerthieb, sondern die „Damnatio Memoriae“ galt: Die postmortale Auslöschung jeder Erinnerung an den Verstorbenen. Und das hieß nicht nur das Zerschlagen aller Statuen, das Herausmeisseln aller Inschriften, das Verbrennen aller geistigen Hinterlassenschaften, sondern auch die Zerstörung der wichtigsten Bauten des Verdammten.
Eine Praxis, die in Mode blieb. Kaiser Vespasian ließ die Domus Aurea seines verhassten Vorgängers Nero unter dem Kolosseum begraben, die Pariser Revolutionäre rissen das Bastille-Gefängnis der Ludwig-Könige steinweise auseinander, Stalin jagte vor laufenden Kameras die zaristische Erlöserkathedrale in Moskau in die Luft, Saddam Husseins Paläste wurden erst bombardiert, dann angezündet, zuletzt gesprengt. Die Seele eines Hauses? Voilà, die Vehemenz der Auslöschung ist ihr bedrückender Beleg. Und ihre Erhaltung der gedankliche Gegenentwurf.

Die Achtung des architektonisch Vergangenen, ganz gleich welche Aura in den alten Gemäuern mitschwingt, wird ein zentrales Anliegen der Aufklärung, der Neuzeit, kulminiert in Karl Friedrich Schinkels Invention einer staatlichen Denkmalbehörde. Jedoch, der Zwiespalt zwischen dem schützenden Umgang mit den Orten der Vergangenen und der Lust des Wegreißens des Gestrigen, des Kräftemessens zwischen kühler Klugheit und jähem Zorn, besteht bis heute: Das erwähnte schmucke Altstadthaus zwischen Kirche und Fluss ist Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn. Während der Nazizeit Pilgerstätte und Museum, 1945 der Sprengung knapp entgangen, danach Privateigentum, stand es zuletzt über Jahre leer, wie aus Angst vor einer finalen Lösung in mumienhaften Schlaf erstarrt.
Dann forderte die Politik, eine Polizeiwache müsse dorthin und schob die Verantwortung auf die Architekten: Sie lobten einen Wettbewerb aus. Vor wenigen Wochen fiel die Entscheidung. Und natürlich, unter den Einsendungen gab es wieder die Damnatio, die Auslöschung des verfluchten Ortes, sei es durch Abriss oder totale Überbauung, wahlweise als denkmalhafter Aufschrei oder absichtsvoll unsichtbare Banalität.

Gewonnen hat, und das ist das Überraschende, fast Verunsichernde, ein Entwurf, der das Bestehende fortschreibt, das Biedermeierhaus stehen lässt und zurückführt auf seine mittelalterlichen Wurzeln, dem Haus die ganz alte Seele zurückgibt – und damit eine Erinnerung vor der Diktator-Erinnerung andeutet – als eine Neue hinzuzufügen. Ein Experiment, eine Gratwanderung. Ob sie gelingt, ob die „ekligen Aufmärsche“´ aufhören, der Ort von seiner Last befreit wird, eine Nutzung als Polizeiwache überhaupt Sinn macht, sei dahingestellt. Der Mut zu einer leisen, nachdenklichen, komplexeren Antwort beeindruckt.

 

Dominik Reding (*1969)

…ist ein deutscher Filmregisseur, Drehbuchautor, Filmproduzent und Schriftsteller.
Dominik Reding studierte Architektur an der RWTH in Aachen und arbeitete in verschiedenen Architekturbüros, u.a. bei Wolfgang Döring in Düsseldorf und Bothe-Richter-Teherani in Hamburg. Parallel nahm er ein Filmstudium an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg auf.
1996/97 wird Dominik Reding von Mitgliedern des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) im Hauptbahnhof Erfurt angegriffen und beschossen. Daraufhin verwirklicht er zusammen mit seinem Bruder Benjamin Reding seinen Debüt-Kinofilm “Oi!WARNING. Leben auf eigene Gefahr!” (1997). Es folgen der Kinofilm “Für den unbekannten Hund” (2009), der Tatort “Fette Krieger” (Autor und Regisseur, 2001) sowie weitere Drehbücher und Musikvideos. 2014 folgt das Bühnenstück „NSU for YOU!“ für das Deutsche Theater Berlin. Für seine Arbeit wurde er bereits mehrmals ausgezeichnet, u.a. mit dem Talentpreis der Directors Guild of America (2000) und dem Förderpreises Filmkunst der Akademie der Künste Berlin (2003). Seit 2008 ist er Mitglied der Deutschen Filmakademie.
Dominik Reding schreibt seit 2010 regelmässig als Kolumnist für die AIT. Aktuell ist das Foto-Kunstprojekt „Kluft & Haut – Porträts junger Menschen auf der Walz“, das er 2019 gemeinsam mit Benjamin Reding verwirklichte, im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg ausgestellt. Dominik Reding lebt und arbeitet in Berlin.

www.eye-warning.de

 

Visualisierung: © Marte.Marte Architekten

 

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